Richard J. Evans über Verschwörungstheorien zum Dritten Reich (2024)

Der Historiker Richard J.Evans untersucht Verschwörungstheorien, die rund um das «Dritte Reich» entstanden sind. Und er erklärt, warum Hitler selber mit populären Mythen wie der Dolchstosslegende wenig anfangen konnte.

Florian Keisinger

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«Das Dritte Reich und seine Verschwörungstheorien»: Der Titel kann in die Irre führen. Denn es geht im neuen Buch des Cambridge-Historikers und NS-Forschers Richard J.Evans nicht um Verschwörungsmythen, die von den Akteuren des «Dritten Reichs» ins Leben gerufen und verbreitet wurden. Sondern um solche, die sich rund ums «Dritte Reich» rankten.

Hitler war, anders als Stalin, kein Verschwörungstheoretiker. Was nicht heisst, dass er nicht bisweilen auf Elemente verbreiteter Verschwörungsmythen zurückgegriffen hätte. Das geschah jedoch weniger systematisch als vielmehr punktuell, was man exemplarisch am Umgang der Nazis mit den notorischen «Protokollen der Weisen von Zion» ablesen konnte, jenem gefälschten Dokument, das im frühen 20.Jahrhundert auftauchte und die vermeintlichen Welteroberungspläne der Juden belegen sollte. Es war eine ebenso üble wie wirkmächtige Hetzschrift, der Historiker nach dem Zweiten Weltkrieg attestierten, das gedankliche Fundament für den Holocaust mit bereitet zu haben.

Hitler selbst hingegen, das vermag Evans aufzuzeigen, hat sich so gut wie nie auf die «Protokolle» bezogen. Was zum einen daran gelegen haben dürfte, dass dies gar nicht nötig war, da ihre verleumderischen Inhalte in rechten Kreisen ohnehin hinlänglich bekannt waren. Zum anderen entsprachen sie aufgrund ihres vom 19.Jahrhundert geprägten Antisemitismus aber auch nicht jenen rassistischen und pseudobiologischen antijüdischen Klischees, mit denen die Nazipropaganda hantierte. Evans rät deswegen dazu, die Kausalverbindung zwischen den «Protokollen» und dem Holocaust nicht überzustrapazieren.

Die Niederlage als Schwäche

Auch das zweite Beispiel, das Evans anführt, passt in dieses Schema: die Dolchstosslegende. Die Debatte darüber, ob die deutsche Niederlage im Ersten Weltkrieg weniger der eigenen militärischen Schwäche als vielmehr dem politischen Verrat linker Kräfte in der Heimat zuzuschreiben sei, war seit 1919 omnipräsent – und sollte auch in den Folgejahren nicht abebben. Doch auch hier gelangt Evans zu der Einsicht, dass sich die Nationalsozialisten den in rechten Kreisen weitverbreiteten Verschwörungsmythos kaum zu eigen machten; Hitler selbst hat praktisch nie Bezug darauf genommen.

Denn wie für die «Protokolle» galt auch für die Dolchstosslegende, dass sie allenfalls am Rande dem NS-Weltbild entsprach, welches den militärischen Zusammenbruch 1918 nicht als Verschwörung der Heimatfront deutete, sondern in erster Linie als Resultat eigener Schwäche und mangelnden Überlebenswillens. Entsprechend war das politische Ziel die Neuerschaffung des deutschen Volkes entlang nationalsozialistischer Massstäbe – und nicht der Rekurs auf im Kern revisionistische Verschwörungsmythen, die der vergangenen Zeit nachhingen.

Dies ist zweifellos die aufschlussreichste Erkenntnis, die nach der Lektüre von Evans’ Buch hängenbleibt. Die drei weiteren Beispiele, die er ausführt, fallen in eine andere Kategorie. Bei ihnen geht es um Ereignisse, die sich während der NS-Zeit zutrugen, ihr Potenzial für Verschwörungstheorien allerdings erst in den Jahren und Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg voll entfalteten.

Wirkungsmacht der NS-Zeit

Zunächst thematisiert Evans den Reichstagsbrand im Februar 1933, der den Nazis den willkommenen Vorwand lieferte, ihr geplantes Programm zur Etablierung der Diktatur zu beschleunigen, und bei dem es sich – anders als Sozialisten und Kommunisten in der Rückschau kolportierten – wohl tatsächlich um die Tat eines Einzelnen handelte.

In der Folge erörtert der Autor den bis heute ominösen Grossbritannienflug des stellvertretenden NSDAP-Führers Rudolf Hess vom Mai 1941, der nach dem Krieg von rechtsreaktionären Kreisen fälschlicherweise zu einem deutschen Friedensangebot an die Briten stilisiert wurde. Zuletzt geht es um den mittlerweile mitunter sogar ins Satirische überzogenen Glauben daran, Hitler habe sich 1945 mit Unterstützung mächtiger Seilschaften nach Südamerika abgesetzt. Eine Lesart, die vor allem in den 1950er und 1960er Jahren in rechten wie auch linken Kreisen ernsthaft erörtert wurde und heute bisweilen noch Stoff liefert für reisserische Fernsehdokumentationen.

Die letztgenannten Beispiele unterstreichen die Wirkungsmacht, welche die NS-Zeit noch Jahrzehnte nach dem Zweiten Weltkrieg gegenüber Verschwörungstheoretikern aller politischen Couleur zu entfalten vermochte. «Nirgendwo ist die Ausbreitung von Verschwörungstheorien und ‹alternativer Fakten› offensichtlicher als in der revisionistischen Darstellung der Geschichte des Dritten Reichs», schreibt Evans.

Kein neues Phänomen

Und das Phänomen lässt sich bis in die Gegenwart weiterverfolgen, wo der Verweis auf den Nationalsozialismus sowohl im analogen als auch im digitalen Diskurs weiterhin die grösstmögliche – und dann meist auch finale – Eskalationsstufe darstellt. Jüngster Beleg hierfür sind die verstörenden Bilder selbsternannter «Querdenker», die sich bei ihren Protesten gegen die Corona-Politik den gelben Stern, das Symbol der nationalsozialistischen Judenverfolgung, ans Revers heften.

Die Lektüre von Evans’ Buch zeigt letztlich aber auch, dass Verschwörungstheorien kein neues Phänomen darstellen. Die Annahme, dass ebenso mächtige wie finstere Kräfte bei der Gestaltung der Welt im Hintergrund ihr Unwesen treiben, existiert, seit sich Meinungen medial verbreiten lassen, also mindestens seit dem ausgehenden 18.Jahrhundert. Auch wenn sich die Art und die Dynamik ihrer Verbreitung geändert haben: Ein wesensprägendes Phänomen des digitalen 21.Jahrhunderts sind Verschwörungstheorien nicht.

Richard J.Evans: Das Dritte Reich und seine Verschwörungstheorien. Wer sie in die Welt gesetzt hat und wem sie nutzen. Aus dem Englischen von Klaus-Dieter Schmidt. Deutsche Verlags-Anstalt, München 2021. 368S., Fr. 41.90.

NZZ-Veranstaltung: Die Sinngebung des Sinnlosen: Was sagt uns die Geschichte?
(Mit Richard J. Evans)

Geschichte ist nicht einfach da, sondern bedarf der Deutung. Wer «macht» Geschichte? Wer schreibt Geschichte? Was lehrt sie uns? Gibt es einen Fortschritt? Was ist historische Schuld? – Fragen, die auch ins Herz der Gegenwart treffen.
Mittwoch, 24. November 2021, 18:30 Uhr, Kunsthaus Zürich
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