Richard J. Evans: «Man hat die Pflicht, den Toten zuzuhören» (2024)

Interview

Der weltberühmte Historiker Richard J. Evans sagt, was uns das europäische 19. Jahrhundert noch zu sagen hat und warum der Nationalstaat heute wieder so attraktiv ist.

Peer Teuwsen

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Richard J. Evans: «Man hat die Pflicht, den Toten zuzuhören» (1)

Durch eine Gasse in der City von London gelangt man ins Paradies der Gratisbildung. Hier am Gresham College, das pro Jahr 130 Vorlesungen für alle und jeden anbietet, ist der Historiker Richard J. Evans fürs Programm verantwortlich. Ein schöner Job für den 71-jährigen emeritierten Cambridge-Professor. Eine Assistentin bringt Wasser, die unbarmherzige Sommerhitze hat es auch in diese alten Gemäuer geschafft.

Herr Evans, warum sind Sie ein so schrecklich seriöser Historiker?

Wenn man eine Trilogie über die Nazizeit schreibt, muss man seriös sein. Aber mir ist es auch sehr wichtig, dass meine Leser und Leserinnen Vergnügen am Lesen finden. Daher versuche ich, die Erzählung und die Analyse selbst bei so einem schrecklichen Thema wie dem Nationalsozialismus ein bisschen zu erleichtern, etwa indem ich die Witze nacherzähle, die die Leute damals über die Nationalsozialisten gerissen haben. Ich habe vor Jahren eine lange Rezension über das dreibändige Werk von Thomas Nipperdey übers 19. Jahrhundert veröffentlicht, eine hervorragende Arbeit. Aber ich habe mich beschwert, dass es in diesem Buch keinen einzigen Witz gibt.

Und Nipperdey war schreiberisch einer der besten deutschen Historiker.

Stimmt. Aber auf diesen 2000 Seiten hört man leider nur die Stimme von Nipperdey, nie die Stimmen der Menschen, die damals gelebt haben.

Ich habe wirklich noch nie einen Historiker getroffen, der so auf Thesen und Zuspitzungen verzichtet wie Sie. Sie machen das, was ein seriöser Historiker macht: Sie sammeln die Quellen, sie gehen in die Archive – und fassen das Gefundene nach bestem Wissen und Gewissen zusammen. Warum?

Meines Erachtens stimmt das nicht ganz. Ich hatte zwei grosse Lehrer in Oxford, und von beiden habe ich gelernt. Einer war John Walsh. Er hat die Geschichte durch Thesen und Kontroversen gelehrt. Der andere hiess Martin Gilbert, der Biograf von Winston Churchill, er hatte überhaupt kein Interesse an kontroversen Thesen und Argumenten, er hat nur Fakten gesammelt. Allerdings ist es ihm gelungen, diese einzuordnen und zu präsentieren. Und ich versuche in meinen Büchern auch, Thesen und Analysen zu präsentieren, aber nicht in abgesonderten Kapiteln, sondern im Laufe der Erzählung.

«Die erste Pflicht eines Historikers ist es, die Vergangenheit zu rekonstruieren. Und als Historiker sehe ich die Vergangenheit durch die Augen der Gegenwart, es geht nicht anders.»

Es gibt ja einen Trend unter Historikern – ich nenne nur Herfried Münkler oder Niall Ferguson –, die Vergangenheit unbedingt in Verbindung zur Gegenwart zu stellen. Münkler zum Beispiel vergleicht in seinem letzten Werk die heutige Weltlage immer wieder mit dem Dreissigjährigen Krieg.

Stimmt, das ist ein Trend, den ich aber argwöhnisch verfolge. Ich habe zum Beispiel einen Artikel für die amerikanische Presse zum Vergleich zwischen Donald Trump und Adolf Hitler geschrieben. Man darf also vergleichen. Aber die Unterschiede sind viel wichtiger als die Gemeinsamkeiten. Die erste Pflicht eines Historikers ist es, die Vergangenheit zu rekonstruieren. Und als Historiker sehe ich die Vergangenheit durch die Augen der Gegenwart, es geht nicht anders. Aber man hat auch die Pflicht, den Toten zuzuhören – und ihnen nicht die eigenen Ideen über Politik oder Gesellschaftsstrukturen aufzubürden. Es gibt ja diesen berühmten Satz im Roman «The Go-Between» von L. P. Hartley: «Die Vergangenheit ist ein fremdes Land, dort gelten andere Regeln.»

Wenn man Ihre neue Geschichte des europäischen 19. Jahrhunderts liest, dann ist man ergriffen von diesem gewaltigen Wandel in hundert Jahren. Sie waren ja schon vorher ein hervorragender Kenner dieser Zeit. Was hat Sie beim Schreiben, bei der Recherche wirklich noch erstaunt?

Das 19. Jahrhundert ist eine Epoche, die aus unserem heutigen Blick weitgehend verschwunden ist. Damals hat auch die Eroberung der menschlichen Natur durch die Medizin angefangen. Und obwohl das 19. Jahrhundert ein Jahrhundert des Fortschritts war und sich selbst auch so begriffen hat, kann man nicht sagen, es habe in der Behandlung der Kriminalität grosse Fortschritte gemacht. Okay, am Anfang hat man die Kriminellen noch immer öffentlich geköpft, am Ende nicht mehr. Aber stattdessen hat man sie in Gefängnisse eingesperrt, wo sie nicht behandelt wurden. Sobald sie freigelassen wurden, haben sie neue Untaten begangen. Das hat mich etwas deprimiert. Im Hinblick auf die Politik hat mich überrascht, wie relativ erfolgreich die 48er Revolutionen waren. Sie haben zwar nicht ihre selbstgesteckten Ziele erreicht, dafür haben sie aber zu einer längerfristigen Umwälzung der europäischen Politik beigetragen. Zwischen 1845 und 1870 werden Italien und das Deutsche Reich gegründet, eine neue Diplomatie kommt auf, das System Metternich wird vernichtet – und dafür beginnt eine Demokratisierung mit neuen parlamentarischen Systemen. Das war, im Endeffekt, viel mehr, als die Revolutionäre wollten.

Sie erzählen in Ihrem Buch konsequent eine Geschichte von unten. Warum?

Ich habe Geschichte in den späten 1960er und 1970er Jahren in Oxford studiert, da kam die Geschichte von unten auf. Und das hat mir als Student und Doktorand mächtig imponiert, so dass ich diesem Ansatz treu geblieben bin. Wenn man die Geschichte Europas als Ganzes betrachtet, muss man doch die Erlebnisse, Wünsche und Ambitionen der Mehrheit der Menschen behandeln. Das ist ein Grund, weshalb ich etwa der Leibeigenschaft und der Bauernbefreiung so viel Platz einräume – während marxistische Historiker das alles nur am Rande behandeln, weil diese Menschen angeblich nichts zum Prozess der historischen Entwicklung beigetragen haben. Allerdings lebten 85 Prozent der Europäer im 19. Jahrhundert auf dem Land, und ich glaube, es ist wichtig, dass wir dieser Tatsache Rechnung tragen.

Es ist natürlich auch schwieriger, Quellen der «einfachen» Leute zu finden.

Und genau deshalb muss man alles tun, um sie zu finden. Meine Familie kommt ja selbst aus diesen Verhältnissen. Ich stamme aus einer walisischen Familie, mein Grossvater war im Bergbau tätig. Er ist früh gestorben, er hat sich an einer Mistgabel verletzt und ist an einer Blutvergiftung gestorben. Seine Frau, danach Witwe, dann mein Onkel und meine Tante haben als Kleinbauern vier Kühe, ein Schwein und etliche Hühner gehalten, und ich habe als Kind mit meinen Eltern oft den alten Bauernhof besucht, bis das alles zugrunde ging.

Wollten Sie immer Historiker werden?

Ja. Meine Eltern haben in den 1930er Jahren Wales verlassen, wegen der Weltwirtschaftskrise, und ich wuchs während der 1950er Jahre in London auf und sah die Häuser im East End, die von den Bomben der Nazis zerstört worden waren. Das hat mich fasziniert: Wie ist es dazu gekommen? Wer hat das getan? Manchmal sah man noch die Tapeten in den Ruinen. Das sah so intim aus. Meine Mutter war Grundschullehrerin. Sie hat mich dann zu Kriegsfilmen mitgenommen. Der Krieg war immer ein Thema in der Familie und in der Politik. Ich habe dann angefangen, Deutsch zu lernen und Geschichte zu studieren. In den späten 1960er Jahren war deutsche Geschichte ein sehr aufregendes und brisantes Wissenschaftsgebiet. Es folgten die Studentenbewegung, der Vietnamkrieg und der Aufstieg des Neofaschismus in Deutschland und England. Wir fragten uns: Leben wir wieder in einer präfaschistischen Zeit? Wie tief sind die historischen Wurzeln des Nationalsozialismus in Deutschland? Kontinuität in der deutschen Geschichte war das Schlagwort.

Was würden Sie sagen, wenn Sie auf das heutige Deutschland blicken: Gibt es diese Kontinuität in der deutschen Geschichte?

Das ist eine heikle Frage. Die Geschichte wiederholt sich nie. Deutschland hat ein sehr kompliziertes Verhältnis zur Vergangenheit. Ich glaube, das Bewusstsein der historischen Verantwortung für die Untaten des Nationalsozialismus gehört heute zum Kernbestand der nationalen Identität der Deutschen. Und das finde ich gut und bewundernswert. Das spielt auch eine Rolle in der Politik von Frau Merkel gegenüber Flüchtlingen und der Europäischen Union.

Kann man sagen, dass dieses unbedingte «Nie wieder», wodurch auch vieles unter den Teppich gekehrt wurde, ein Aufkommen der AfD begünstigt hat?

Vielleicht. Die AfD ist aber vor allem ein Beispiel der strukturellen Tendenz, dass kleinere Parteien in Zeiten grosser Koalitionen mehr Anhänger finden. Dazu kommt die Tatsache, dass seit der Finanzkrise 2008 in der europäischen Politik die Extreme erstarken und die Mitte schrumpft.

Was sagt ein Historiker, wenn er diese zunehmende Polarisierung beobachtet?

Ich bin sehr vorsichtig, was die Zukunft anbelangt. Im Sommer 1989 habe ich ein Büchlein über den sogenannten Historikerstreit geschrieben. Darin stand auch, dass die Wiedervereinigung zu meinen Lebzeiten sicherlich nicht passieren wird.

«Ja. Ich habe keinen Zweifel, dass die Demokratie in Europa – und nicht nur in Europa – in Gefahr ist.»

Ich frage aber nicht nach der Zukunft. Kann man mit einem Blick in die Vergangenheit sagen, welche Faktoren zu einer Polarisierung der Gesellschaft führen können?

Die Wirtschaftskrise in Deutschland am Anfang der 1930er Jahre war sehr viel grösser als heutzutage, aber da gab es eine Polarisierung, Nationalsozialismus auf der rechten Seite, Kommunismus auf der linken Seite. Man darf nicht vergessen, dass die Kommunisten in den letzten freien Reichstagswahlen 1932 hundert Sitze im Parlament erringen konnten. Die Mitte wurde total ausgehöhlt, mit Ausnahme des katholischen Zentrums und der SPD, die aber auch schwere Einbussen in Kauf nehmen mussten.

Eine zunehmende Polarisierung kann also auf gefährliche Zeiten hindeuten?

Ja. Ich habe keinen Zweifel, dass die Demokratie in Europa – und nicht nur in Europa – in Gefahr ist. Wir haben es mit immer mehr Politikern zu tun, die keinen Respekt für die Demokratie und die demokratischen Institutionen haben.

Das 19. Jahrhundert ist ja auch der Beginn des Nationalismus. Und nach 1914 boomte das Konzept des Nationalstaats geradezu. Warum, Herr Evans, sind der Nationalstaat und damit vielleicht auch der Nationalismus heute noch immer so attraktiv?

Wir leben seit dem Verfall des Kommunismus 1990 in einer Zeit der raschen Globalisierung. Die grossen Unternehmen haben mehr und mehr Macht, und Teile der Bevölkerung haben das Gefühl, es werde immer schwieriger, eigene Entscheidungen für die Zukunft zu treffen. Und in dieser Situation eignet sich die Nation als identitätsstiftendes Zentrum. Das sieht man auch in Grossbritannien. Man ist plötzlich Waliser oder Schotte oder Engländer, nicht mehr Brite.

Aber warum konnte der Nationalstaat so attraktiv werden?

Im 19. Jahrhundert wollte das Bildungsbürgertum grössere Räume für ein gemeinsames Denken, eine gemeinsame Kultur, die Meinungsfreiheit. Gleichzeitig kämpfte das Wirtschaftsbürgertum für Handel, Wirtschaft und Industrie. Heutzutage ist der Nationalismus aber keine Sache der gebildeten Klassen mehr, sondern der grossen Massen. In Grossbritannien sind die Leute, die für den Brexit gestimmt haben, meist ohne Universitätsstudium. Meine Generation, von der nur rund 10 Prozent studiert haben, hat leider in ihrer grossen Mehrheit für den Brexit gestimmt, die Generation meines Sohnes, von der um die 40 Prozent studiert haben, hat sich fast ausschliesslich für den Verbleib in der EU ausgesprochen.

Was heisst das für Ihre Generation?

Mein Sohn hat mir gesagt, man solle den Leuten das Wahlrecht entziehen, sobald sie in den Ruhestand kommen.

Mein Gott, was haben Sie geantwortet?

Dass wir nicht alle so sind. Und dass meine Hoffnungen auf der Generation der Jungen ruhen. Ausserdem habe ich ihm gesagt, dass das Resultat wahrscheinlich ein anderes gewesen wäre, wenn sich seine Generation mehr Mühe gegeben hätte, auch abstimmen zu gehen.

Richard J. Evans

Richard J. Evans, Jahrgang 1947, studierte Geschichte in Oxford und war ab 1998 Professor für Moderne Geschichte in Cambridge. 2008 wurde er zum Regius Professor of Modern History in Cambridge benannt, eine Stellung, die das Königshaus auf Empfehlung des Premierministers vergibt. 2014 wurde Christopher Clark zum Nachfolger von Richard Evans bestimmt. Evans, der perfekt Deutsch spricht, ist spezialisiert auf die Geschichte Deutschlands und hat mit seiner Trilogie über das Dritte Reich Massstäbe gesetzt. Evans trat auch im Prozess um den Holocaustleugner David Irving als Gutachter und Experte auf. – Peer Teuwsen ist Redaktionsleiter von NZZ Geschichte.

Wie gefährlich ist Ungleichheit für die Stabilität eines Gemeinwesens?

Tatsächlich steigt seit zwanzig Jahren die soziale Ungleichheit in den meisten europäischen Staaten sowie auch in den Vereinigten Staaten an. Wenn die Leute glauben, dass sie ihr Los in ihrem Leben nicht verbessern können, dass die Entscheidungsmacht bei Politikern in Brüssel oder New York oder multinationalen Unternehmen liegt, greifen sie zu den Extremen. Wir kennen das mutatis mutandis aus den 1930er Jahren.

Man hat im 19. Jahrhundert auf die wachsende Ungleichheit mit sozialen Massnahmen, der Einführung des Vorsorgestaats reagiert.

Das war zum Beispiel die Politik Bismarcks, der mit seiner Sozialpolitik zum Ziel hatte, die Arbeiteraristokratie von der SPD abzuspalten und staatstreu zu machen – was ihm nicht gelungen ist. Ähnliches hat man in England versucht.

Man hat den Sozialstaat, wenn man ehrlich ist, eingeführt, um die Massen zu beruhigen.

Das kann man so sagen.

Sie kennen sich ja mit Diktatoren aus.

Persönlich nicht.

Aber als Historiker. Erstaunt es Sie eigentlich immer noch, dass Menschen einem Einzelnen hinterherhecheln?

Da ist Napoleon III. ein gutes Beispiel. Er war der erste moderne Diktator, weil er glaubte, sich legitimieren zu müssen, indem er den Anschein erweckte, die Unterstützung der ganzen Bevölkerung zu haben. Die Wahlen waren natürlich manipuliert. Zudem versuchte er den napoleonischen Mythos aufleben zu lassen, indem er eine abenteuerliche Aussenpolitik verfolgte. Damit war er fünfzehn Jahre lang erfolgreich, dann war der Mythos verblasst. Heutzutage sieht man, dass etwa Orban oder Erdogan von der Mehrheit der Bevölkerung einigermassen freiwillig unterstützt werden. Das ist sicher ein Unterschied auch zu den Zeiten des Faschismus, der sich nur mit Gewalt und Gewaltandrohung etablieren konnte.

Würden Sie im Rückblick sagen, die meisten Menschen seien ein bisschen dumm?

Nein, die meisten Menschen wollen Sicherheit und Wohlstand. Die meisten sind nicht so wie wir Journalisten oder Historiker, die vor allem die Freiheit suchen, zu sagen und zu denken, was sie wollen. Wenn man keinen Job hat oder fast nichts zu essen, dann ist die Freiheit nicht so wichtig. «Erst kommt das Fressen, dann die Moral.»

Ich weiss nicht, ob das Essen dauerhaft kommt, wenn man keine Freiheit hat. Aber egal. In England werden Historiker auch manchmal von den Regierenden gefragt, was sie tun sollen. Wenn Sie Premierminister wären, was würden Sie tun?

Die Historiker werden manchmal gefragt, aber zugehört wird ihnen nie. Als Deutschland 1989 wiedervereinigt wurde, fragte Margaret Thatcher eine Reihe namhafter Historiker, ob das gefährlich sei. Sie sagten ihr alle, sie müsse sich nicht beunruhigen. Thatcher hat trotzdem weiterhin das Gegenteil verkündet, etwa dass die Wiedervereinigung Deutschlands den Dritten Weltkrieg bedeuten könne. Und als Tony Blair vor der Frage stand, ob sein Land mit den Amerikanern in den Irak einmarschieren solle, hat er ebenfalls vorgängig Historiker befragt – die ihm natürlich alle abgeraten haben. Sie wissen, dass auch er nicht auf sie gehört hat. Aber um Ihre Frage zu beantworten: Wenn ich Premierminister wäre, wäre ich ein Premier von Labour. Und ich würde versuchen, die Partei auf einen konsequenten Kurs zum Verbleib in der EU zu bringen. Das Problem der heutigen Labour ist, dass der Vorsitzende Corbyn ein Gegner der Europäischen Union ist.

«Das ist Unsinn. So gradlinig verläuft auch keine Geschichte, die nicht geschehen ist.»

1997 erschien «Virtual History», herausgegeben von Niall Ferguson. In diesem Buch fragen sich verschiedene Historiker, was passiert wäre, wenn die Weltgeschichte an bestimmten Punkten anders verlaufen wäre. Sie haben nach dem Erscheinen mit «Veränderte Vergangenheiten» eine fulminante Attacke gegen diese sogenannte kontrafaktische Geschichtsschreibung veröffentlicht. Warum?

Ich halte diese Phantastereien für unseriös. Die kontrafaktischen Erzähler sind übrigens in der Mehrheit konservativ, weil die Linke im Grossen und Ganzen glaubt, die Geschichte sei programmiert. Ein Teil der Konservativen hingegen glaubt halt, es sei einiges schiefgelaufen. Es wäre besser gewesen, wenn es keinen Ersten Weltkrieg gegeben hätte oder wenn das Heilige Römische Reich Deutscher Nation noch immer bestehen würde. Kurz nach dem Erscheinen von «Virtual History» fiel mir auf, dass kein Historiker irgendetwas gegen diese Art der Geschichtsschreibung geschrieben hat. Irgendeiner musste es ja tun.

Ich frage Sie trotzdem: An welchen Punkten hätte die Geschichte Europas im 19. Jahrhundert anders verlaufen können?

Das Problem der kontrafaktischen Geschichtsschreibung ist, dass sie die Existenz von Wendepunkten in der Geschichte voraussetzt, die, wären sie anders verlaufen, zwangsläufig zu anderen Entwicklungen geführt hätten. Das geht so: Wenn England nicht in den Ersten Weltkrieg eingetreten wäre, hätte Deutschland gewonnen, dann hätte es keinen Hitler und keinen Holocaust gegeben – und das britische Empire würde immer noch bestehen. Das ist Unsinn. So gradlinig verläuft auch keine Geschichte, die nicht geschehen ist. Es gibt eine Unmenge Möglichkeiten, wo der Zufall die kontrafaktische Linie hätte brechen können.

Warum schreiben Sie über den Historiker Eric Hobsbawm eine Biografie?

Die Britische Akademie der Wissenschaften hat mich gebeten, einen ausführlichen Nachruf zu verfassen, nachdem er 2012 gestorben war. Ich kannte ihn und bin ein Bewunderer seiner Bücher. Er hat mich sehr beeinflusst. Ich fand in seinem Haus einen riesigen Schatz von Tagebüchern, unveröffentlichten Manuskripten, Erinnerungen. Er hat nie etwas weggeworfen – und ist erst mit 95 Jahren gestorben. Er hat viele Ereignisse des 20. Jahrhunderts selbst erlebt und über alles geschrieben. Ich konnte diese Chance nicht ausschlagen. A. J. P. Taylor, ebenfalls ein von mir bewunderter Historiker, hat einmal gesagt, Biografien gehörten nicht zur Geschichtswissenschaft, aber jeder Historiker solle es einmal versuchen. Ich höre jetzt auf ihn.

Müssten Sie Hobsbawms Wirken in fünf Sätzen zusammenfassen, was würden Sie sagen?

Hobsbawm war und ist der wohl meistgelesene Historiker der Welt. Seine Bücher wurden in über fünfzig Sprachen übersetzt. Er hatte die Fähigkeit, grosse Fragen zu behandeln und originelle Konzepte zu entwickeln. Die Idee des langen 19. Jahrhunderts, das Konzept der Sozialrebellen, des kurzen 20. Jahrhunderts, der Begriff der «Erfindung der Tradition» – all das stammt von ihm. Und er war ein grosser Schriftsteller, er hatte die Fähigkeit, Geschichte plastisch darzustellen und begrifflich klar einzuordnen. Da hat ihm seine marxistische Denkweise geholfen. Sein letztes Buch, «Das Zeitalter der Extreme», hat eine riesige Leserschaft bekommen, weil es das erste Buch war, das das 20. Jahrhundert begrifflich einordnete.

Was würden Sie an Hobsbawm kritisieren?

In seinen früheren Büchern war der marxistische Ansatz reduktionistisch, er hat die Auswirkungen von sozialen Gegensätzen zu einfach dargestellt. Und er war in einigen Büchern zu eurozentrisch. Wenn er etwa 1946 bis 1974 als das «Goldene Zeitalter» beschreibt, dann war das vielleicht in Europa so, aber sicherlich nicht in China, Indien, Afrika oder Lateinamerika. Doch seine Bücher werden noch immer gelesen, das kann man von den wenigsten historischen Büchern sagen.

Welches Ihrer Bücher wird überleben?

Keines.

Bitte keine Koketterie.

Ich wünschte natürlich, dass alle überleben. Das Buch, auf das ich wirklich stolz bin, ist das einzige Buch, das ich auf Deutsch geschrieben habe: «Kneipengespräche im Kaiserreich. Stimmungsberichte der Hamburger Politischen Polizei 1892–1914». Aber es ist vergriffen. Wenn irgendein Verleger dieses Interview lesen sollte, dann bitte . . .

Sie erwähnen Ihre Trilogie über das Dritte Reich nicht?

Meine Forschungsbücher – «Tod in Hamburg» etwa oder «Rituale der Vergeltung» – werden länger überleben.

Die Trilogie hat Sie reich gemacht. Sie haben einen Vorschuss von einer Million Pfund dafür bekommen.

Wovon die Hälfte für die Steuern und anderes wegging. Aber das war natürlich schön. Wissen Sie, Geld zu bekommen für etwas, das ich ohnehin tun würde, weil ich es liebe – das ist ein Umstand, für den ich jeden Tag dankbar bin.

Auf Einladung von NZZ Geschichte kommt Richard J. Evans am 6.November 2018 nach Zürich ins Bernhard-Theater. Er spricht mit Peer Teuwsen, Redaktionsleiter von NZZ Geschichte, über den Nationalsozialismus, sein neues Buch über das 19. Jahrhundert in Europa und über sein Leben. Die Veranstaltung ist ausverkauft. Es sind aber noch wenige Tickets an der Abendkasse verfügbar

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